Wider der Selbstentfremdung: Ein Manifest zugunsten indigener Subkulturen
Deutsche Version veröffentlicht am . Das englische Original wurde jedoch am veröffentlicht.
Einleitung
Hallo. Mein Name ist Lianna und ich bin eine 24 Jahre alte nichtbinäre Linguistin aus Deutschland. Ich habe schon immer hier gelebt, und sowohl meine Ethnie als auch meine Muttersprache sind Deutsch.
Und trotzdem finden meine Präsenz in den sozialen Medien, meine vielen Hobbyprojekte, meine Fanfiction, meine Videos und Indie-Games, die meisten meiner Online-Interaktionen und sogar in großen Teilen meine eigene queere Identität ausschließlich auf Englisch statt.
Wie ist das passiert, und was bedeutet das?
Wer sind wir?
Wer eine gewisse Zeit mit bestimmten Generationen deutscher queerer oder neurodivergenter Leute verbracht hat, merkt schnell, dass aus für Außenseiterinnen unerfindlichen Gründen die meisten von ihnen hauptsächlich Englisch sprechen. Ob beim Einkaufen, mit Freundinnen reden, auf den sozialen Medien oder beim Spielen – sie sprechen Englisch.
Es ist ja nicht so, als ob wir das nur täten, wenn wir um Leute herum wären, die kein Deutsch können. Selbst unter ausschließlich deutschen Freundinnen sprechen wir Englisch oder eine Art Mischsprache. Unser Vokabular ist mit Anglizismen und englischen oder zumindest dem Englischen entlehnten Redewendungen gefüllt. Es ist uns häufig unangenehm, in Bezug auf bestimmte Themen Deutsch zu sprechen, insbesondere jene, die etwas mit unser persönlichen Identität wie etwa Sexualität, Queerness, Kink oder Neurodivergenz zu tun haben.
Warum ist das so?
Aufgrund vieler Faktoren, die die meisten von uns leider betreffen, insbesondere Mobbing, Entfremdung, das Gefühl anders oder 'kaputt' zu sein, oder auch das fehlende Verständnis unseres Umfelds, wurden viele von uns vom Kindesalter an im Internet sozialisiert.
Das World Wide Web, und nicht etwa unsere Schule, Nachbarschaft oder das Zuhause, war der Ort, an dem wir auf Gleichgesinnte, auf Akzeptanz und Ressourcen trafen, um herauszufinden, was wirklich mit uns 'nicht stimmte'. Für viele von uns war das Internet der Ort, an dem wir das erste Mal andere Leute trafen, die wie wir waren. Ein Ort, an dem wir über unsere Erfahrungen und Gefühle reden konnten. Oft existierten unsere einzigen Freundesgruppen und Beziehungen online, da sie die Einzigen waren, die uns wirklich verstanden und so geliebt haben, wie wir waren.
Hier im globalen Westen ist das Internet ein hauptsächlich englischsprachiger Ort. Man kann eine ganze Menge über die Gründe dafür sinnieren; in den ersten paar Entwürfen dieses Artikels hat diese Überlegung den Text um so ein Vielfaches verlängert, dass er kaum noch lesbar war. Ich werde das Thema also vorerst in die kleine Exkursion am Rande verbannen.
Aber was passiert denn, wenn sich die Identität mancher Leute fast ausschließlich im englischsprachigen Internet entwickelt, und wenn die einzigen Räume, in denen sie sich akzeptiert, geliebt und verstanden fühlen, auf Englisch stattfinden? Sie werden natürlich anfangen, die englische Sprache mit ihren Freunden, Selbstentdeckung, Beziehungen und Hobbies, also kurz gesagt: mit ihrer Wahlheimat, ihrem authentischen Selbst zu assoziieren. Und die deutsche Sprache verbinden sie mit ihren (leider oft missbräuchlichen) Familien, mit all den Menschen die sie auf der Straße belästigen, konservativen Kollegen, Arbeit, Schule, Bürokratie, Mobbing, also kurz gesagt: mit Traumata.
Auf dieselben Art und Weise, auf die manche Leute ihren Dialekt im Gespräch innerhalb der Familie und sogenannte 'Standardsprache' in formellen Kontexten verwenden, lernen wir das Code Switching. Es fühlt sich nur natürlich an, über unseren Kink-Lifestyle auf Englisch zu reden, weil das die Sprache ist, in der wir den Jargon gelernt und unsere ersten Erfahrungen gemacht haben. Die Sprache, in der wir zuerst mit solchen Themen wie gegenseitigem Einverständnis, Safewords und den psychologischen und emotionalen Effekten des Kink konfrontiert wurden.
Wenn wir jetzt ins Deutsche wechseln, ist der Jargon uns fremd, und wir assoziieren es unwillkürlich mit den einzigen anderen Orten, an denen wir deutsche Sprache über Sexualität gehört haben: in objektifizierender Werbung, steifem und veralteten Sexualkundeunterricht, richtig schlechter lokaler Pornografie, oder sogar unseren kollektiven schleimigen Onkeln, die ungefragte Kommentare über unsere Körper machen.
Als eine queere oder neurodivergente Person zu existieren, oder auch einfach ein Nischenhobby wie Retrotechnologie oder das Web Revival zu haben, forciert uns meist in Subkulturen, die in amerikanisch-englischsprachigen Räumen stattfinden, und die stark von der Kultur der USA beeinflusst werden. Ein großer Teil unserer Existenz ist von unser physischen Umgebung und der Kultur, in der wir aufgewachsen sind, entfremdet und in eine größtenteils nicht fassbare, englischsprachige Online-Welt der Realitätsflucht – Eskapismus – verschoben worden.
Es fühlt sich an, wie ein Doppelleben zu leben. Auf der einen Seite existiert das Mundane, voll mit Rechnungen, Arbeit, Abwasch, Belästigung auf den Straßen, Vermieterinnen und Familiendramen. Hier verwendet man die Muttersprache. Und dann lebt man noch das authentische, echte Leben: die eigenen Partnerin(nen), Identität, Selbstverwirklichung, Freundinnen, Hobbies, Sexualität, das sichere Zuhause. Und all das findet auf Englisch statt.
Was ist das Problem?
Ich finde es grundsätzlich schade, dass es in der Praxis ein Zwang ist, sich auf englischsprachige und US-amerikanische Online-Subkulturen einlassen zu müssen, um gewisse Subkulturen und Hobbies mitzubekommen und an ihnen teilnehmen zu können.
Menschen, die kein Englisch können oder sich auf Englisch nicht sicher fühlen, werden aus Hobbies oder auch Communities ganzer Identitäten so ausgeschlossen. Die deutschen Orte gibt es nicht überall, und häufig sind sie auch historisch bedingt nicht sonderlich reich an Ressourcen, aktiv oder auch im sozialen Umgang angenehm. Es gibt viele, die des Englischen nicht mächtig sind oder die schlicht Erfahrungen teilen und lesen wollen, die aus ihrer in Deutschland entwickelten lebensnahen Perspektive nachempfindbar sind.
Ich würde auch gerne diejenigen Freundinnen an meinen Hobbies und Projekten teilhaben lassen können, die kein Englisch können. Das ist mir aktuell nicht möglich, weil all meine Projekte auf Englisch sind. Ich isoliere mich damit effektiv und schaffe mir eine eigene Blase.
Insbesondere was Identitäten angeht finde ich, dass Menschen aus unterrepräsentierten Minderheiten auch die Möglichkeit bekommen sollten, auf Deutsch zu interagieren, Freundinnen und aktive Subkulturen zu finden, in denen man Unterstützung bekommt.
Ich möchte im Folgenden noch auf einige ernste Effekte und Konsequenzen eingehen.
Politische Narrative
Die extreme Rechte außerhalb der USA behauptet schon lange, dass kulturelle Entwicklungen wie Queerness, alternative Selbstausdrücke, das Ernstnehmen emotionaler und geistiger Gesundheit oder auch Antirassismus gewissermaßen aus den USA 'importiert', uns von außen künstlich aufgezwängt worden seien. Es ist eine ziemlich offensichtliche Neuverpackung der guten alten antisemitischen Verschwörungstheorie der 'Weltverschwörung' bzw. des 'Kulturbolschewismus', nach der geheime Schattenorganisationen unsere Nation mit fremden Kultureinflüssen schwächen und einnehmen versuchen würden.
In den Augen vieler – wenn nicht aller – Konservativen sind sichtbar queere Leute und andere 'Systemsprenger' Produkte eines typischen amerikanischen Woke-Gagas, was vor dem amerikanischen Einfluss auf unsere Kultur noch nie existiert habe und unsere Kinder verweichliche, schwul und trans mache. Durch diesen Mythos verwandeln sie uns von Mit-Deutschen in etwas 'Anderes', in Eindringlinge, in eine Gefahr von außerhalb. Das ist bereits jetzt in Staaten wie der Russischen Föderation oder der Volksrepublik China fester Teil der offiziellen Staatsideologie, in denen die LSBT-Bewegung als ein ausländischer, der eigenen Kultur fremder Parasit klassifiziert wird.
Indem sie das tun, versuchen sie eine Definitionshoheit darüber herzustellen, was 'unsere Kultur' ist und was nicht. Wenn sie damit in den Köpfen der Menschen Erfolg haben, werden sie dazu führen, dass sogar Verbündete uns als eine Art Sonderminderheit sehen, die wir zusätzlich zur 'normalen' Kultur tolerieren müssten – nicht als ein natürlicher Teil derer.
Ich schreibe diesen Artikel nicht, um diese chauvinistische, hasserfüllte Weltanschauung zu unterstützen, und schon gar nicht, um für eine Art Anpassungspolitik zu werben, wir müssten alle mal ein wenig mehr deutsch werden, um die Konservativen nicht zu verärgern. Das ist das Gegenteil meiner Absicht.
Stattdessen schlage ich vor, dass wir diese Leute nicht anhand ihrer willkürlichen, diskriminierenden Kriterien eine 'echte Deutsche' definieren lassen. Unsere Existenz als queere, nicht-nationalistische, sozial fortschrittliche Deutsche ist ein Beweis dafür, dass deutsch aufgewachsen zu sein nicht irgendwie ein Widerspruch zum queer sein oder zu einer sozial fortschrittlichen Grundhaltung ist. Und dasselbe gilt auch für alle anderen Kulturen.
Selbst wenn die queere Kultur in Deutschland, wie sie heute existiert, größtenteils aus der USA käme, würde das ihnen nicht recht geben. Es wäre lediglich eine interessante Fußnote in der Biografie eines Individuums. Deren Absicht ist es, wieder die Nation als ein Bezugspunkt der Identität herzustellen: wie seien alle Deutsche, und das sei das eine Merkmal, das uns verbinde. Es ist ein Versuch ihrerseits, die nationale Identität später zu verwenden, um 'undeutsche' Elemente zu verfolgen und den deutschen Staat aufgrund seiner 'Deutsch-heit' als rechtmäßigen Repräsentanten unseres kollektiven Interesses zu etablieren.
Sie versuchen, eine normative Idee zu etablieren, was es heißt, deutsch zu sein, insbesondere als Kontrast zu anderen Nationen. Internationale Subkulturen wie unsere sind offensichtlich dieser Idee ein Dorn im Auge.
Selbstentfremdung
Diese Spaltungspolitik hat natürlich psychologische Effekte auf Leute wie uns. Wenn wir nicht nur die ganze Zeit erzählt bekommen, dass wir kein echter Teil Deutschlands sind oder dass unsere Identitäten ein Widerspruch zur deutschen Kultur seien, sondern wir uns sogar tatsächlich selbst isolieren und Schutz nur in fremdsprachlichen Communities finden, geben wir schon implizit unseren Platz in der Gesellschaft auf. Wir entfremden uns davon, was wir sind, weil wir anfangen, die Idee zu verinnerlichen, dass wir hier nicht hingehören. Wir geben präventiv im vorauseilenden Gehorsam schon unser Bleiberecht auf, was uns praktischerweise bereits aus der deutschen Kultur entfernt.
Nur um das klarzustellen: es ist kein moralisches Problem eines Individuums, wenn es sich dazu entscheidet, sich von der deutschen Kultur loszulösen und stattdessen fast ausschließlich in Subkulturen eines Online-Fokus zu leben. Die längste Zeit habe ich ja selbst dasselbe gemacht. Ich erwarte von niemandem, dass sie ihre Freundinnen, ihre sicheren Orte oder ihren Komfort abgibt, nur um irgendeinen Kulturkampf zu führen. Leute sollten sich in erster Linie wohl und sicher fühlen.
Ich finde es nur unglaublich traurig, dass so viele von uns, einschließlich meiner selbst, intuitiv unsere Identitäten und Interessen als Widerspruch zu der Kultur wahrnehmen, in die wir geboren wurden.
Ob wir es wollen oder nicht, ob wir versuchen uns so weit wie möglich loszulösen oder nicht, sind wir alle Deutsche, einfach aufgrund des Umstandes, dass wir hier aufgewachsen sind. Wir sollten keine Angst haben, wir selbst zu sein oder als Deutsche zu existieren, weil wir anderenfalls die Definitionshoheit über unsere eigene Kultur an jene verschenken, die uns verdrängen wollen. Deutsch zu sein bedeutet eben nicht automatisch, ein engstirniger nationalistischer Konservativer mit einem ungesunden Verhältnis zu Bier, Fußball und Kontrolle über die Identität Anderer zu sein. Dass wir selbst existieren, ist ein Gegenbeweis. Ich bin nicht 'stolz', deutsch zu sein, aber ich schäme mich auch nicht dafür. Es ist einfach ein Aspekt meiner Geburt und meiner Kindheit, nicht mehr und nicht weniger.
Trans zu sein heißt nicht, dass ich weniger deutsch bin, und ich werde mich nicht einfach fügen, aufgeben und den Nationalistinnen die Hoheit über den Ort zu geben, an dem ich großgeworden bin, die Sprache, die ich spreche, oder die alltäglichen Teile der deutschen Kultur, mit der ich sozialisiert wurde.
Die Räume, die wir hinterließen
Der andere große negative Effekt des Phänomens, dass fortschrittliche Leute in englischsprachige Internet-Subkulturen fliehen, ist, dass unsere örtlichen Subkulturen dann karg und verkommen hinterlassen werden. Die einzigen Leute, die dort noch geblieben sind, sind jene, die nicht in den fortschrittlicheren englischsprachigen Online-Subkulturen teilnehmen können (oder wollen). Das heißt, dass nur eine bestimmte Art Leute jetzt die örtliche Subkultur kontrolliert – eine, die tendenziell älter und konservativer ist.
Große Teile der FOSS und GNU/Linux-Subkulturen sind in den letzten Jahren beispielsweise sehr viel diverser und zugänglicher geworden. Mittlerweile sind queere Leute in der Community sehr sichtbar und gut repräsentiert, viele Projekte haben eine Antidiskriminierungs-Richtlinie und es gibt recht viel Widerstand gegen die traditionelle, männerdominierte Computerkultur.
Aber das ist größtenteils ein US-amerikanisches und Online-Phänomen. Es gibt viele fortschrittliche, queer-freundliche und nette Leute aus Deutschland, die in diesen englischsprachigen, fortschrittlichen Varianten der Subkulturen partizipieren, weil sie dort ein Zuhause gefunden haben. Als Konsequenz ziehen sie sich aus den äquivalenten lokalen deutschen Subkulturen zurück bzw. haben sie nie kennengelernt. Durchschnittliche LUGs oder FOSS-Foren aus Deutschland werden, obwohl die deutsche Community an sich demografisch sehr anders ist, immer noch ein Zipfeltreffen hauptsächlich konservativer Männer mittleren Alters oder älter mit einer guten Prise Sozialchauvinismus sein.
Auf einer größeren Skala betrachtet führt das effektiv dazu, dass unsere örtlichen Subkulturen oft hauptsächlich von denen bevölkert werden, die aus welchen Gründen auch immer sich weigern, an den fortschrittlicheren Online-Äquivalenten teilzunehmen. Obwohl wir durchaus in der Mehrheit sein könnten, würde jemand, die von außen auf deutsche Subkulturen blickt, immer noch Communities vorfinden, die von Jahrzehnte alten sozialen Umgangsformen, Diskriminierung und rückwärtsgerichteten Ideologien durchsetzt sind.
Das hat Konsequenzen für die echte Welt, weil diese örtlichen Vereine meist die ersten Berührungspunkte für interessierte Neulinge sind. Communities vor Ort sind auch zentrale Anlaufstellen für die Medien sowie regionale und nationale Politik, die sich mit dem Thema auseinandersetzen will.
Ein prägnantes Beispiel: selbst wenn eine Gemeinde hier deren lokale Trans-Community fragen würde, was denn wohl der beste Umgang mit trans-Themen auf der kommunalen Ebene sei, würde im Falle dessen, dass diese lokalen Communities voll mit trans Leuten seien, die konservative Ideen verträten – weil alle fortschrittlicheren Leute ins Internet geflüchtet seien – deren Antwort an die Gemeinde (für sie) die Meinung der ganzen Trans-Community repräsentieren. Es würde uns aber alle gleichermaßen betreffen. Wer schon einmal bei einer 'traditionellen', älteren Trans-Selbsthilfegruppe in Deutschland war, wird wohl nicht wollen, dass die Meinung dieser Leute die Politik für uns beeinflusst.
Eine Frau, die eigentlich gerne sich mit Technik auseinandergesetzt hätte, könnte von der Nerd-Welt verstoßen werden, wenn ihr einziger Kontakt mit der Community die lokale Linux-Usergruppe voller frauenfeindlicher Männer ist, die sie in den Lokalmedien oder örtlichen Events repräsentiert gesehen hat. Wenn sie sich online umschaut, würde sie nur wenige YouTube-Kanäle, Foren, Chats oder Blogs darüber finden, und die die sie findet, würden ein ähnlich karges Bild abgeben. Wenn sie sich nicht unbedingt mit Englisch wohlfühlt, würde sie nicht mal eine Chance haben, etwas anderes zu finden.
Was können wir mitnehmen?
Was sind denn jetzt also die Schlussfolgerungen von alledem?
Die Antwort ist, dass das eine unglaublich persönliche Frage ist, die man sich stellen muss. Es gibt keine richtige oder falsche Reaktion darauf. Von niemandem sollte erwartet werden, dass sie sich künstlich einschränkt oder ihre etablisert Komfortzone verlässt. Eine Art Subkultur-Boykott würde nur die Schwächsten unter uns treffen, die von ihrem Eskapismus abhängig sind, oder die, die sich mit ihrer Kultur unwohl fühlen oder sogar traumatisiert wurden.
Auf mich persönlich bezogen habe ich allerdings den Entschluss gefasst, dass ich gern aufhören würde, zu diesem Zustand beizutragen. Ich bin eine kreative Person und eine gewisse Art Künstlerin. Ich erstelle Content und trage zu meinen Subkulturen bei: indem ich kleine Indie-Games entwickle, Fanfiction schreibe, in sozialen Medien präsent bin, Videos aufnehme, lange Blogposts wie diesen hier veröffentliche, an meiner Website arbeite, Ressourcen verwalte und so weiter.
Aktuell trage ich zum Fake bei, dass jemand, die mit meinen Nischen-Hobies und Identitäten interagieren will, sich in englischsprachige, von Amerikanerinnen dominierte Online-Subkulturen begeben muss. All meine Sachen sind soweit nur auf Englisch verfügbar.
Wenn ich ein neues Projekt anfange, ist mein erster Instinkt, es auf Englisch zu schreiben. Man erreicht damit einfach das größte Publikum, und man möchte damit die eigene Subkultur, die man kennt und mag, unterstützen. Indie-Games, Fanfiction, Video-Essays, Webseiten, Konten auf sozialen Medien und so weiter sind bei mir bis dato 'standardmäßig englisch' gewesen.
Aber ich würde gerne in einer Welt leben, in der man nicht Englisch sprechen oder mit amerikanischer Kultur konfrontiert werden muss, wenn man sich mit Retro-Technologie auseinandersetzen, Ressourcen über obskurere queere Identitäten finden, heiße Kink-Fanfiction lesen oder am Web Revival teilnehmen will. Ich möchte nicht, dass US-amerikanische Kultur jede Facette unser Identitäten durchdringt. Genau wie die Vorreiterinnen des Deutschrap, die sich von reiner Imitation des amerikanischen Rap bis hin zu ihrem eigenen Ort mit eigenem Style entwickelt haben, möchte ich aus diesem selbstgewählten Gefängnis, einfach für alle Zeiten amerikanische Onlinekultur zu imitieren, ausbrechen. Ich würde gerne mich selbst repräsentieren, und das beinhaltet auch den Fakt, dass ich halt deutsch bin, authentisch und ohne mich verstecken zu wollen.
Aktuell ist das aber nicht, was mein Verhalten repräsentiert.
Die Zukunft meiner Projekte
Das alles ist der Grund für meine Entscheidung, die deutsche Sprache bei zukünftigen Projekten zu priorisieren. Ich würde gerne zu allen meinen Subkulturen auch auf Deutsch beitragen, um meinen Teil dazuzutun, die Lücken zu füllen. Wenn möglich werde ich überall eine bilinguale Präsenz führen; aktuell beispielsweise arbeite ich daran, qualitative, handgeschriebene deutsche Untertitel zu meinem uralten Video-Essay über GTA Online hinzuzufügen.
Libre.Town selbst wird vorerst so bleiben, wie es ist, weil es einfach so riesig ist. Ich setze mich aber mit dem Gedanken auseinander, eine deutsche Unterkategorie der Seite zu erstellen.
Auf Deutsch zu wechseln (oder zumindest daran zu arbeiten, langsam alle meine Projekte bilingual zu machen) wird eine Menge Nachteile und Kompromisse nach sich ziehen, aber ich bin bereit, dieses Risiko einzugehen.
Erstens werde ich, falls ich deutschen Content mache, mein mögliches Zielpublikum stark einschränken. Fast alle Deutschen im Internet können und werden mit englischen Inhalten interagieren, aber nur wenige Nichtdeutsche, von denen es viel mehr gibt, werden willens und in der Lage sein, mit deutschen Inhalten umzugehen, selbst wenn sie englische Untertitel haben. Hobbies und Nischen, die nur sehr wenige Leute haben, werden wenn überhaupt ein sogar noch kleineres deutsches Publikum haben.
Vielleicht wird fast niemand meinen deutschen Post beispielsweise über meine Detransition-Erfahrung lesen, oder über irgendeinen obskuren Laptop aus den späten 90er Jahren. Aber ich bin froh, dass ich dann zum kollektiven gesellschaftlichen Kulturgut auf eine gewisse Weise beitrage. Dass es eben nicht mehr keine deutschen Posts zu diesem obskuren Thema gibt, sondern einen, selbst wenn ihn aktuell niemand liest. Wer weiß – wenn eine gewisse Masse erreicht wird, wird vielleicht meine bescheidene Arbeit eine kleine Rolle dabei spielen, dass sich eine bislang nur englischsprachige Subkultur auch in Deutschland ansiedelt?
Ich sehe aber auch viel positives Potenzial. In meinen Subkulturen gibt es viele englischsprachige Standardwerke, die alle kennen: im Bereich Retro-Computer bsipielsweise gibt es Clint Basinger vom YouTube-Kanal LGR. Viele Nischen sind bereits gesättigt. Es gibt eine ganze Menge englischsprachige Fanfiction für alles, wovon ich Fan bin. Fast alles, jede Idee, ist schon zu Tode umgesetzt worden. Video-Essays und tiefgehende Analysen über Computerspiele? Es gibt heutzutage so viele, dass ich sie kaum zählen könnte. Web-Revival-Webseiten wie bei Neocities? Selbst diese Subkultur ist mittlerweile ziemlich überfüllt.
Aber all diese Nischen sind eigentlich nur in der englischsprachigen Welt gesättigt. Ich könnte keine einzige Erstellerin deutscher, hochqualitativer, längerer Video-Essays über Computerspiele nennen. Ich kann keine einzige hauptsächlich deutsche Fanfiction-Autorin nennen, deren Arbeit ich lese, geschweige denn in einer bestimmten Nische. Ich habe noch nie eine deutsche Web-Revival-Website gesehen.
Es gibt viele Möglichkeiten für deutsche Inhalte in all diesen Nischen. Anstatt die Idee, deutsche Kunst zu kreieren, als etwas zu betrachten, was die Zugänglichkeit einschränkt, würde ich diesen Gedanken eher auf den Kopf stellen: ich würde gerne Inhalte denen zugänglich machen, die Deutsch sprechen, aber vielleicht kein Englisch sprechen können oder wollen. Anstatt der astronomischen Menge Inhalte, die es bereits auf Englisch gibt, noch Neues hinzuzufügen und Zehntausende zu erreichen, könnte ich vielleicht jemand werden, die etwas auf Deutsch gemacht hat, was vielleicht nur ein halbes Dutzend Leute jemals sehen – aber für diese Leute werde ich die erste und einzige Quelle sein.
Und hoffentlich, nur vielleicht, werde ich zu einer Welt beitragen, in der Subkulturen für alle von uns 'Systemsprengerinnen' auch auf Deutsch existieren, nicht als fahle Imitationen und Übersetzungen, sondern als eine Symbiose unser eigenen Kultur mit der jeweiligen Subkultur. Etwas Neues und Frisches, etwas in Hinblick auf unsere Lebenserfahrung Authentisches; etwas, was nicht nur ein gentrifiziertes Äquivalent unser echten, gelebten Erfahrungen ist.
Sodass eventuell zukünftige Generationen queerer und neurodivergenter Leute nicht mehr diese Selbstentfremdung spüren und sich in US-amerikanische englische Subkulturen flüchten müssen, nur um authentisch sie selbst zu sein.
Das beste Gegengift gegen Hass ist und bleibt, mit der Minderheit in Kontakt zu kommen. Wenn es keine vernünftige deutsche Subkultur gibt und wir alle nur unser echtes Selbst in unzugänglichen englischen Gruppen zeigen, dann gibt es keine Chance, dass Leute wie unsere Eltern oder Nachbarinnen jemals die Möglichkeit bekommen, uns so zu sehen, wie wir sind, uns zu verstehen, und vielleicht zu lernen, dass wir auch nur Leute sind, die ihr Leben leben wollen.
Glossar
Falls Du ein mobiles Endgerät nutzt und deshalb die im Artikel verteilten Begriffsdefinitionen mangels Mauszeiger nicht lesen kannst, gibt es hier ein alphabetisch sortiertes Glossar. Die Definitionen sind außerdem hier ausführlicher als im Text.
- Code Switching
- Situationsabhängiges Wählen geeigneter Sprachvarietäten
- Fanfiction
- Von Fans verfasste Geschichten im Universum existierender Filme, Bücher und anderer Medien
- FOSS
- Freie und Open Source-Software
- GNU
- GNU ist nicht Unix; ein Betriebssystem
- Indie-Games
- unabhängige (independent), meist von Hobbyisten statt professionellen Studios entwickelte Computerspiele. Vergleiche auch etwa Indie-Musik
- Kink
- Neuerer, weniger belasteter Begriff für den Themenbereich BDSM und Fetisch
- LGR
- Lazy Game Reviews
- LUG
- Linux-User-Gruppe
- LSBT
- Deutsche Übersetzung von englisch LGBT; steht für 'lesbisch, schwul, bi und trans'. Meint im Allgemeinen auch andere Minderheiten: siehe Glossareintrag Queer.
- Neurodivergenz
- Der Fakt, dass es keine 'normale' menschliche Psyche als 'gesunden' Normalzustand gibt, als Gegenentwurf zur Vorstellung, dass Abweichungen von der 'Norm' krankhafte Fehlentwicklungen seien. Als Personenbezeichnung beschreibt es Menschen mit alternativer psychologischer oder neurologischer Entwicklung, z. B. mit Autismus, bei der es keinen unweigerlich mit dem Phänomen verbundenen Leidensdruck gibt. Der Begriff Neurodivergenz betont hierbei, dass es sich um natürliche und gleichwertige Entwicklungen der Psyche und um keine korrigierbaren Fehlentwicklungen handelt.
- Nichtbinär
- Weder männlich noch weiblich
- Queer
- Überbegriff für Minderheiten in Bezug auf Geschlechtsidentitäten und sexuelle bzw. romantische Orientierungen. Meist deckungsgleich mit 'LGBTQ' bzw. im deutschen Raum 'LSBTIQ'
- Safeword
- Stopp-Signal insbesondere im BDSM, um außerhalb der Rolle mitteilen zu können, dass etwas nicht stimmt